Vorher. Wie war das denn eigentlich, das Vorher? Was war da? Was war da nicht?
Ein Blick zurück. Weit zurück. Manchmal wie in eine andere Welt. Ein anderes Leben. Vorher ist also vor dem 14.01.2011. Vor dem Tag der Diagnose.
Ist es wirklich das? Ist an dem Tag alles anders geworden? War nicht vielmehr vorher auch schon irgendwas anders? Irgendwas nicht in Ordnung?
Es ist Sommer. Spätsommer. Ich verzweifle an meiner Magisterarbeit. Will so viel und schaffe doch so wenig. Was will ich im Leben machen? Was will ich arbeiten? Das Gefühl genau nun alles richtig machen zu müssen. Das Gefühl nagt an mir. Macht was mit mir.
Müde. Müde in der Bibliothek. Der Kopf auf den Büchern. Normal denke ich mir noch. Ist halt auch anstrengend.
Nachts Schweiß. Viel Schweiß. Machmal der ganze Pyjama nass. Komisch denke ich mir.
Das Bedürfnis dauernd zu schlucken. Als wäre da was in der Kehle. Als würde mir etwas den Hals zuschnüren. Nervig denke ich mir.
Ich gehe zum Arzt. Anämie. Nicht so schlimm sagt er noch. Aber doch wohl komisch, weil das Eisen in Ordnung ist und die Leukozyten so niedrig. Magen- und Darmspiegelung. Der Gedanke hier könnte die Erklärung liegen. Aber hier ist nichts. Keine Erklärung .
Weitere Blutuntersuchungen. Nichts. Ich bekomme naturheilkundliche Drops. Soll sie lutschen, gegen das Gefühl in der Kehle, gegen den Nachtschweiß. Irgendwas Beruhigendes.
Nichts. Nichts verändert sich. Meine Mama beginnt sich Sorgen zu machen. Ich ein bisschen.
Es ist jetzt November. Eisigkalt. Ein Spaziergang an der Elbe mit meinem Freund. Die Finger sind kalt, fast erfroren. Und sie haben rote Punkte, rote Stellen. Die gehen nicht weg. Auch seltsam denke ich mir.
Wieder beim Hausarzt. Jetzt ist es kurz vor Weihnachten. Er sagt, er wisse nicht weiter. Ich schlage vor, ich könne doch zum Hämatologen gehen. Hat meine Mutter nämlich gesagt. Die hat gegoogelt und spricht schon von Leukämie. Ach Quatsch denke ich mir. Aber hole mir einen Termin.
Er nimmt mir die Sorgen. Sagt, Leukämie das sei so selten, das glaube er nicht. Will aber trotzdem eine Punktion machen, Knochenmarkspunktion.
Ich liege in einem kleinen Raum. Habe meinen Freund mitgebracht. Tut schon bisschen weh hat der Arzt gesagt. Lokale Betäubung. Eine riesige Spritze sticht mir in den Beckenkamm. Aua, denke ich mir.
Mein Freund assistiert. Soll ihm wohl helfen, denn ihm ist auch schon schlecht.
Jetzt, heute, 18. August 2020. Ich kann kaum drüber schreiben. Meine Lende schmerzt, zieht sich zusammen. Mir wird schlecht. Verrückt, so was nennt man wohl Trauma. Immer noch da.
Irgendwas bohrt in mein Knochenmark. Die Schmerzen sind kaum auszuhalten. Aber ich will stark sein, das bin ich doch, stark. Tränen laufen mir über die Wangen. Was ist das? Was passiert hier? Oh, Hilfe.
Fertig. Blut, ganz schön viel Blut. Ich liege noch ein bisschen auf der Liege und darf dann gehen.
Ich warte. Warte bis zu dem Anruf im U-Bahnschacht am 14. Januar.
Aber ist das alles? War da nicht noch was anderes in diesem Jahr?
Ja. Ja, da war noch mehr. Da war das Gefühl nicht zu wissen, wohin mein Weg geht. Die Frage was das alles soll, warum wir leben, warum jeder einzelne lebt. Was wir anfangen mit unserem Leben. Die Suche nach Sinn. Ich weiß, damals streifte sie mich das erste Mal in meinem Leben. Mit voller Wucht. Erinnere mich, wie ich meinen damals 92 jährigen Opa anrief und er mir versuchte, meinen Kummer zu nehmen. Ich mich an ihm und meiner Oma orientieren wollte. An einer Generation die so wenig hatte, und doch so zufrieden und voller Dankbarkeit schien.
Erinnere mich auch, an den Vergleich mit meinem damaligen Freund. Er Musiker. Schien sein Hobby zum Beruf gemacht zu haben. Soviel Sinn. Und dann ich. Alles erschien mir so sinnlos. Ich wollte doch mal die Welt retten, etwas Gutes tun. Jetzt Kulturwissenschaften, die Frage über was die Magisterarbeit schreiben. Stadtplanung oder Konzernsicherheit. Zwei so gegensätzliche Bereiche. Und ich dazwischen. Die Entscheidung für das, was mutmaßlich mehr Perspektive zu bieten schien. Mehr finanzielle Sicherheit. Aus Angst, aus Angst vor Ungewissheit.
Der Versuch etwas Nachhaltiges, etwas Soziales in der Konzernsicherheit zu finden. Zumindest das. Die Entscheidung für ein Thema. Dann das Streben nach Perfektionismus. Ein altbekannter Gefährte. Das Verlieren im Detail, das Ausschweifen, das Alles wollen. Auch das bekannt. Das Gefühl, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Nichts neues.
Aber ich mache weiter. Komme voran. Irgendwie. Vermutlich ist es gar nicht so schlecht, vielleicht sogar gut. Aber der Anspruch so hoch.
Der Abend davor. Der 13. Januar. Jetzt die Erinnerung. Ich bin mit meiner Mutter zum Essen verabredet. Italiener. Am nächsten Morgen ein Interview geplant. Mit meiner Betreuerin aus dem vorherigen Praktikum bei der BMW Konzernsicherheit. Will mir erzählen, welche Risiken für den BMW-Konzern aus sozial unverträglichen Entscheidungen in der Einstellungs- und Personalpolitik entstehen. Corporate Security Responsibility. Ein neuer Begriff, von mir erdacht, soll sich durchsetzen. So wichtig denke ich.
Das Interview findet nie statt. Weil ich den Anruf erhalte. Den Anruf ich solle bitte in die Praxis kommen.
Rückblickend war es ein so turbulentes Jahr. Rückblickend erlebte ich eine heftige Sinnkrise. Rückblickend hatte ich enorme Angst vor der falschen Entscheidung. Rückblickend konfrontierte mich die Magisterarbeit zutiefst mit meinem Perfektionismus und meiner Angst nicht gut genug zu sein.
Rückblickend vielleicht all das der Anfang. Das Ende von vorher. Das Ende von so weitermachen wie bisher. Von Entscheidungen die aus Angst und nicht aus Liebe getroffen wurden. Von einem Weg der nicht wirklich meiner war.
Vielleicht auch ein Wachrütteln. Die Leukämie vielleicht ein Hilfeschrei meines Körpers, meiner Seele. Etwas darf sich verändern. Habe ich die Botschaft gehört? Habe ich sie angenommen?
Nein. Keinesfalls. Lange nicht. Sehr lange nicht. Irgendwann dann schon. Auch davon möchte ich erzählen.
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