Tage. Tage kommen. Tage gehen.
Morgens Blut abnehmen, Tabletten schlucken. Jeden Tag.
Graubrot. Butter. Marmelade. Käse. Tee. Jeden Tag.
Arztgespräche. Arztvisiten. Reinigungskräfte. Besuch. Jeden Tag.
Der Blick aus meinem Fenster. Auf den Eingang zum Gebäude. Unten manchmal ein bisschen Leben. Oben der Himmel. Jeden Tag.
Ein bisschen Yoga im Bett. Ein bisschen Puzzle. Tierdokus im Fernseher. Ein bisschen Musik und Tanz. Jeden Tag.
Kein einziger Tag mit Zweifeln. Mit Angst. Mit Sorge. Es nicht zu schaffen.
Der feste Glaube. Die Entscheidung. Der Wille. Es zu schaffen.
51 Tage lang.
In einem Zimmer ohne Ausgang. Mit drei Fenstern, verschlossen. Meine eigene kleine Welt. Meine Zelle.
Dreimal durfte ich dich verlassen. Der Anlass kein schöner. Komplikationen während der Chemo. Ultraschall. Chirurgie. Augenarzt.
Alles ohne Himmel. Ohne Luft. Ohne die Welt draußen. Im Rollstuhl gefahren durch die Klinikflure. In einen kalten kleinen Raum gebracht und wieder abgeholt.
Vielleicht damals das erste Mal. Ein großer Schmerz, aber das Aussprechen so schwierig. Am liebsten verschweigen. So intim. So peinlich. So unangenehm. Aber der Schmerz so doll. Also kommen die Worte raus. Mit Scham. Mit Traurigkeit.
Eine Mariske. Hämorrhoide. So groß wie ein Ei. Sitzen unmöglich. Auf dem Rücken liegen unmöglich. Stehen so gut wie.
Die Ärzte männlich. Die Scham so groß. Der Besuch kommt weiter, doch was sagen?
Die Hilfe klein. Eine Konsultation vom Chirurgen draußen zu risikoreich. Alternativen keine. Eine Creme, die nicht hilft.
In einer Nacht der Schmerz zu groß. Der Gang nach draußen jetzt unvermeidbar. Der Blick vom Fachmann. Eine OP notwendig, aber aufgrund der Chemo nicht möglich. Also abwarten. Warten mit Schmerzen.
Es verging. Irgendwann. Ein optisches Makel ist geblieben. Bis heute. Die Scham dafür auch.
Und noch mehr. Auch Komplikationen im Bereich der Vulva. Warum? Warum muss ich meine intimsten Bereiche zeigen? Mich offenbaren? Mein Persönlichstes teilen? Warum nicht meinen Finger, meinen Zeh, mein Ohr? Es hat mich angestrengt. Kraft gekostet. Mich traurig und wütend gemacht.
Heute frage ich mich, warum ist die Scham so groß? Warum bewegt es mich so sehr? Ist es nicht alles bloß mein Körper? Egal wo, egal was? Ein gefühltes Tabu. Darüber zu sprechen. Darüber zu schreiben. Damit zu leben. Zu Sein.
Es kostet so viel Kraft. Das Tabuisieren. Das Verheimlichen. Das Ablenken. Das Kleinreden. Das Schweigen.
Nun diese Zeilen.
Damals. Die Tage trotzdem fast immer hell. Mit Kampfgeist und Optimismus. Mit dem Willen und dem Entschluss.
Ein klarer Blick. Ein klarer Geist. ´Self fulfilling prophecy´ war meine selbst gewählte Methode. Oft habe ich daran zurückgedacht in den letzten drei Jahren. Wie stark ich da war. Wie determiniert und fokussiert. Oft habe ich mir gewünscht, diese Stärke und Disziplin wieder zu erlangen. Diesen manifesten Glauben, dass es gut wird. Dass es gut ist. Dass ich mit meinem Handeln die Zukunft beeinflussen kann. Dass ich bloß stringent im Sinne meiner Vorhersage agieren muss. Dann kommt es so. Dann ist alles gut.
So wie damals, ist es nicht wieder geworden. Aber anders, auch gut. Aber dazu ein andermal.
Heute. Auch ein kleines Schmunzeln beim Gedanken an diese damals genutzte Methode. Ein Referat dazu in der Uni. Seminar Arbeits- und Betriebspsychologie. Damals gehalten und mich so fasziniert. Mit seinen Gedanken und Handlungen die Zukunft gestalten: Ich muss nur glauben, dass ich es schaffe. Muss nur stets in meiner Kommunikation und meinem Handeln positiv sein. Bedacht sein, achtsam sein. Wenn ich es glaube und aussende, dann kommt es auch so.
Wie wertvoll. Wie schön.
Heute nach all meinen Erfahrungen und meinen Kenntnissen, spirituellen, therapeutischen, medizinischen, weiß ich, wie wichtig es war, was ich damals glaubte und tat. Welch große Rolle es gespielt hat. Wie es mein Anker und vielleicht auch meine Rettung war.
Aber auch: Welchen Anspruch ich damit an mich stellte. Kein Raum für Zweifel. Für Sorge. Für Traurigkeit. Für Wut. Das durfte nicht sein. Dann würde ich es nicht schaffen. Immer schön positiv sein Imke. Dann schaffst du das.
Die anderen Gefühle. Bei meiner Familie. Meinem Partner. Meinen Freunden. Ich dagegen. Stets positiv. Stets optimistisch. Stets voller Vertrauen. Voller Kampfgeist. Voller Mut und Stärke.
Ich habe es auch geglaubt. Von der ersten Sekunde an. Wusste, dass ich es schaffe. Die Alternative so unattraktiv. Tod. Nein. Nicht für mich. Das geht nicht. Das kann nicht sein. Noch nicht jetzt. Aber irgendwann wurde es ein Zwang. Eine Aufgabe ohne Ende. Eine Verantwortung. Für mich. Für andere. Irgendwann gab es kein Zurück mehr. Irgendwann war ich die Stütze. Der Anker. Der Glaube. Das Vertrauen. Musste stark sein für die anderen. Musste „oben bleiben“ für die anderen. Musste es glauben. Für die anderen.
Vielleicht ist das so. Vielleicht hat man als Betroffene(r) gar keine andere Chance. Wenn man leben will. Dann muss man vertrauen. Glauben. Wissen. Es ist der eigene Kampf. Ein Kampf der nur mit den eigenen Mitteln gewonnen werden kann. Aber kein Kampf bleibt ohne Wunden. Tränen, die nicht geweint wurden, bahnen sich ihren Weg. Wut, die nie ausbrach, nimmt sich ihren Raum. Sorge, die nie zugelassen wurde, ist auf einmal da. Und Angst, die nie sein durfte, wird auf einmal sehr laut.
Das alles kam. Später. Sehr viel später erst. Und ist heute noch da. Nicht immer. Nicht immer so laut. So doll. So massiv. Aber doch. Stark sein. Fällt mir oft schwer. Dankbar das annehmen was (noch) da ist. Fällt mir oft schwer. Voller Vertrauen sein. Ist mir manchmal nicht möglich. Zu glauben. Manchmal weiß ich nicht mehr was.
Aber ich bin da. Bin über so viele Berge und Flüsse gestiegen. Und steige noch. Wunden heilen auch wieder. Langsam. Aber sie heilen.
Die 51 Tage waren ok. So würde ich es immer noch sagen. Damals und heute. Es hätte ganz anders kommen können. Andere haben schwere Komplikationen. Müssen Loslassen. Ihren Kampf beenden. Ich durfte weiter machen.
Und ich hatte so wunderbare Begleiter. Meine Mutter. Meinen Partner. Meine Freunde. Meine Familie. Da war so viel. So viel Fürsorge. Zeit. Aufopferung. Liebe. Das braucht einen eigenen Blogbeitrag.
51 Tage.
Mit Willen. Mit Entschluss. Mit Glaube. Vertrauen. Wissen. Aber auch mit Schmerzen und Scham. Mit Anstrengung. Verantwortung und einer Aufgabe.
Und am Ende. Wieder der Himmel. Die Luft. Die Welt. Draußen.
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